Was machen zwei Profis, wenn ein Konzern das Tochterunternehmen schließt, in dem sie erfolgreich arbeiten? Sie machen sich selbständig. So geschehen bei Stephen Voss und Dirk Wittling, die in ihrem neugegründeten Versicherungsunternehmen auch gleich noch großen Teilen ihrer früheren Mannschaft neue Jobs bieten konnten.
Besser sein – von Anfang an
Die Versicherungsfabrik Neodigital
Ein Start-Up zu gründen ist ja, so scheint es zumindest, gerade ein bisschen en vogue. Jeder St. Gallen-Absolvent sucht nach einer Nische, in der er leicht zu verdienendes Geld wittert. Aber eine Versicherung gründen? Eine echte Versicherung? Nicht nur ein hübsches Frontend, wie es Dutzende gibt im Bereich der Fintech und InsureTech, den Start-Ups aus dem Finanz- bzw. Versicherungsbereich?
„Wir wollen nicht nur Vertrieb sein. Wir wollen eine vollständige Versicherung sein“, sagt Stephen Voss mit breiter Brust. Neodigital ist eine echte Versicherung, hat eine Risikoträger-Versicherungs-Lizenz. Als sie 2017 anfingen, kannten sie aus ihren früheren Jobs bereits alle Schwächen der konventionellen Versicherer. „Komplett neu anzufangen hat viele Vorteile, man muss sich nicht mit veralteten Abläufen oder Softwares abgeben, sondern kann neu planen“, erklärt Voss die „Gnade des späten Starts“, wie er es nennt. Also sollte alles, von der Produktentwicklung über die Schadensabwicklung bis zum Kunden-Portal digital sein, ohne Medienbruch. Wären sie nur Vertrieb und hätten einen Risikoträger im Hintergrund, wäre an der Stelle ein Bruch in den Abläufen, der im besten Fall nur zeitliche Verzögerungen verursachen würde. So aber liegt nahezu die gesamte Wertschöpfungskette, abgesehen von externen Maklern, in ihrer Verantwortung. Und sie bieten bereits eine breite Produktpalette an mit Hausrat- und Haftpflicht-, Tierhaftpflicht-, Fahrraddiebstahl-, Unfall- und Wohngebäudeversicherungen. „Die Mainzer Volksbank war von Anfang an mit dabei, schon bei der Gründungsfinanzierung, das hat einfach gepasst. Schließlich waren schon meine Eltern und auch ich immer bei der MVB“, so Voss.

Bei Versicherungen sind die Kosten relativ klar. Je nach Versicherungsart gehen 60 bis 80 Prozent der Prämieneinnahmen an die Schadensabwicklung, etwa 20 Prozent an Verwaltung und Kosten und noch einmal etwa 20 Prozent an den Vertrieb. Da bleibt bisweilen lediglich ein Prozent als Gewinnanteil übrig. Die Schadensanteile liegen statistisch fest, ohne Vertrieb geht es nicht. Also war klar, dass die Verwaltungskosten erster Ansatzpunkt waren. Durch die komplett digitale Abwicklung hatten sie hier besondere Sparpotenziale, die sie in Form günstiger Tarife an ihre Kunden weitergeben.
Der nächste Schritt
Allerdings denken Voss und Wittling bereits einen Schritt weiter. Demnächst kommt noch die beitragsstarke KFZ-Versicherung dazu, der Antrag auf Lizenzerteilung läuft bereits. Hier wird den Kunden freiwillig ein Telematik-Tarif angeboten, der bis zu 20 Prozent günstiger ist als ein Standard-Tarif. Dazu wird das Fahrverhalten durch einen kleinen Chip im Auto aufgezeichnet und ausgewertet. Die Auswertung macht eine Fremdfirma, aus Datenschutzgründen, Neodigital erhält nur einen Score-Wert für den Kunden zurück, keine Details aus der Aufzeichnung. Damit ist das Prinzip „Pay how you drive“, also zahlen nach dem Fahrstil, abbildbar. Das ist ein Paradigmenwechsel, denn bisher funktionierten Versicherungen, indem das Einzelrisiko auf das Versicherungskollektiv und die Zeit verteilt wurde. Die Telematik-Tarife sind zwar auch Gruppentarife, dennoch ist dies bereits ein Schritt in Richtung Individualversicherung. Weil dies so gut funktioniert, bietet Neodigital die Technologie weiteren Versicherungsfirmen an, elf sind bereits mit an Bord. Damit heben sie Skaleneffekte der Plattform-Technologie: Einer Software ist es egal, ob sie für 5.000 oder 500.000 Verträge Daten berechnet.
Corona als Brennglas
Mit der komplett digitalen Aufstellung hatte Neodigital klare Vorteile, als Corona kam. „Wir sind schon als Profiteure bezeichnet worden. Das ist unpassend. Viel mehr hat die Pandemie die bestehenden Schwächen im Markt aufgezeigt. Davon waren viele Unternehmen erheblich betroffen. Wir nicht, denn wir haben uns von Anfang an anders im Markt aufgestellt“, so Voss. Ein Beispiel: Vor der Pandemie wollten nur wenige Menschen lieber eine Video-Beratung als einen Besuch, zum Beispiel, weil man dann die Kamera schräg nach oben richten konnte und niemand die Unordnung im Wohnzimmer sah. Nun, während Corona, will niemand mehr einen Versicherungsberater in sein Haus lassen. Als digitaler Versicherer war Neodigital nicht ausschließlich auf Berater angewiesen. Und nach einer kurzen Phase, in der die Abschlüsse der externen Makler einbrachen, ging es mit NeoDigital aufwärts. Aktuell wächst der Kundenstamm um 20.000 Kunden im Monat auf aktuell 250.000 Kunden. Auch die 55 Mitarbeiter waren bereits vor Corona mit Laptops und Arbeitsverträgen mit HomeOffice-Option ausgestattet. So langte im Februar 2020 ein einziger Test-Tag, um alle Mitarbeiter unbefristet ins Home-Office zu schicken. Das Bürogebäude in Neunkirchen, ausgelegt für 50 Mitarbeiter, verwaist derweil. „Als ich letzte Woche einmal dort war, war nur ein halbes Dutzend Kollegen im Haus“, berichtet Voss.
Corona hält Voss und Wittling nicht auf. Sie denken bereits weiter. Das Internet-of-Things, also die Vernetzung von Alltagsgegenständen, steht in den Startlöchern. Wenn man Autos mit Telemetrie-Chips ausstatten kann, warum dann nicht auch Heizungen versichern, deren Chips Wartung und Auslastung messen oder Smartphones, die aufzeichnen, wie oft sie herunterfallen. Neodigital besitzt die Technologie, um Kundenverhalten als Bonus in Verträge aufnehmen zu können. Und sie besitzen die Plattform, die dies anderen Versicherungen zur Verfügung stellt.
Digital Natives sind die Zukunft
Eine konkrete Expansion planen sie aktuell nicht. „Vielleicht weiten wir nach Österreich aus, das ist ein überschaubarer, deutschsprachiger Markt“, denkt Voss laut nach. Stattdessen konzentrieren sie sich voll und ganz auf die nächsten Versicherungen, die sie anbieten werden, und wie sie mit ihrem aktuellen Angebot weiter wachsen. Es braucht keine Pandemie, ein Blick auf die Demographie reicht. Die Digital Natives kommen ja gerade erst in das Alter, in dem man Versicherungen abschließt – online natürlich.
Von: Theo Bender, Referent Unternehmenskommunikation
Bilder: Neodigital.